Wie ich mir einen perfekten Tag vorstelle

Variante 1

 

Lange habe ich überlegen müssen, wie ich ein perfekter Tag für mich aussehen könnte.

Ein perfekter Tag beginnt für mich zunächst einmal damit, dass ich ausschlafen kann, ohne dadurch die Länge des Tages zu verkürzen. Da es sich der Aufgabe gemäß jedoch nicht um einen Urlaubstag, sondern um einen alltäglichen Tag handeln soll, kann ich das mit dem Ausschlafen vergessen und ersetze es deshalb durch „ausreichend geschlafen“. Das setzt voraus, dass ich am Vorabend früh genug ins Bett gegangen bin, was wiederum voraussetzt, dass ich schon so früh so müde war, dass ich es ausnahmsweise geschafft habe, nicht auf dem Sofa einzuschlafen, sondern direkt ins Bett zu gehen. Das allerdings könnte bedeuten, dass ich so erschöpft oder sogar krank war, um schon um 19:00 oder 20:00 Uhr ins Bett zu gehen, was wiederum legt den Schluss nahelegt, dass schon der Tag vor dieser Nacht in irgendeiner Form erschöpfend gewesen sein muss.

Also nicht die besten Voraussetzungen für einen perfekten Tag danach.

Da ich diese Ursache-Wirkungs-Ketten bis ins Unendliche zurückgehen könnte, lassen wir diesen Umstand einmal außer acht und nehmen einfach an, ich hätte prima geschlafen und sei gemäß meines individuellen Biorhythmus' zu einem Zeitpunkt aufgewacht, als mir ein möglichst sanfter Übergang in den Tag gestattet wurde.

Ich fühle mich also frisch und ausgeruht (was selten genug vorkommt), komme leicht und schwungvoll aus dem Bett heraus und auf die Beine (ebenso selten), bin völlig klar im Kopf und vollkommen schmerzfrei (selten hoch zehn) und weiß sofort, wozu und warum ich auf dieser Welt bin.

Entsprechend motiviert betrete ich das Badezimmer, wo mir die Zahnbürste nicht auf den flusigen Badvorleger fällt. Wenn ich mich hier umschaue, ist überhaupt alles wunderbar sauber und ordentlich. Wir begleiten mich in die Küche, wo es mit einem ausgewogenen, sättigenden und nahrhaften Frühstück weitergeht.

Aber bereits hier muss ich mich zwischen zwei grundsätzlichen Möglichkeiten entscheiden: Gehe ich gedanklich einen perfekten Tag während meiner Arbeit im Kindergarten (meinem „Lohn- und Brotjob“, wie ich es nenne) durch, oder male ich mir das bisher fiktive Szenario eines gut laufenden Praxisbetriebes aus?

 

Möglichkeit a): Kindergarten

 

Kollegin W. hat heute leider keine Stimme, so dass sie mich nicht schon kurz nach meiner Ankunft mit ihren Familiengeschichten zutexten kann. Dafür ist Kollegin F. ausgezeichneter Laune, so dass wir heute viel Spaß nebenbei haben werden. Mein Integrationskind ist ebenfalls bester Dinge, hört auf alles, was ich sage, ist lieb und folgsam und macht überhaupt gar keinen Unfug. Generell sind heute alle Kinder völlig unkompliziert – keins wirft beim Frühstück eine Tasse herunter, keins pinkelt neben die Toilette. So endet mein Arbeitstag im Kindergarten um 12:30 Uhr; ich fahre nach Hause, wo mich bereits eine vollwertige, leckere Mahlzeit – liebevoll zubereitet von meinem Lebensgefährten – erwartet.

 

Oder doch lieber

 

Möglichkeit b): Praxisbetrieb?!

 

Nach meinem ausgewogenen Frühstück suche ich meine geschmackvoll eingerichtete Praxis auf. Mein Blick fällt als erstes auf die blinkende Lampe des Anrufbeantworters: Patient D. hat angerufen, um mir mitzuteilen, dass seine Beschwerden nach meiner Behandlung letzte Woche schon wesentlich besser geworden sind; seine Stimme klingt erfreut und zuversichtlich. D. ist ein überaus netter Patient; überhaupt habe ich ausschließlich angenehme und unkomplizierte Patienten, die meine Therapievorschläge gewissenhaft befolgen, engagiert mitarbeiten und dementsprechend immer sehr schnelle Therapieerfolge verbuchen können – natürlich auch aufgrund meiner Sachkompetenz und meines einnehmenden Wesens, was auch ein Grund dafür ist, dass ich mich als Therapeutin eines guten Rufes erfreue.

Am Vormittag behandle ich drei Patienten, am Nachmittag vier weitere, die mich alle sofort bar bezahlen und sogar noch einen Bonus obendrauf legen, weil sie so glücklich über ihre Heilungsverläufe sind.

 

Ob Kindergarten oder Praxis – am Nachmittag gehe ich ausgiebig und bei angenehmer Temperatur spazieren, bevor wir abends mit guten Freunden in der neuen Crêperie im Ort essen gehen. Wir plaudern angeregt miteinander, lachen viel, streifen vielleicht noch ein etwas ernsteres Thema, aber am Ende lachen wir wieder.

Wir fahren nach Hause. Licht aus. Gut schlafen. Neuer Tag.

 

Wenn ich mir diese Phantasien so durchlese, überkommt mich schon nach wenigen Sätzen große Langeweile. Und natürlich ein gerüttelt Maß an Unglauben – darüber, dass es einen solchen Tag überhaupt geben kann. Und wenn es jemals einen solchen Tag in meinem Leben gegeben haben sollte, hab ich's bestimmt mal wieder nicht mitbekommen.

Also besser:

 

Variante 2:

 

Versuch, die Bedingungen für einen perfekten Tag aufzulisten: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ich einen Tag als „perfekten Tag“ bezeichnen kann?

  • guter Schlaf

  • gutes Essen

  • klarer, wacher Kopf

  • keine Schmerzen

  • gute Laune / gute Stimmung

  • viel freie Zeit für: schreiben, Taiji, träumen, lesen....

  • gleichzeitig eine Tätigkeit, die meinen Neigungen und Talenten entspricht und gut bezahlt wird

  • viel Bewegung an der frischen Luft

  • Kontakte zu netten Menschen

  • und als I-Tüpfelchen: ein Wetter, das zu meiner Stimmung passt (also, ich verlange keinen ständigen Sonnenschein; aber so, wie ich mich gerade fühle, soll es bitte draußen auch sein: passend halt)

Auch diese Liste könnte ich unendlich fortsetzen – sie ist wahrscheinlich alles andere als vollständig –, womit ich einerseits zu einer weiteren Bedingung komme: Ein solcher Tag müsste mindestens 48 Stunden haben, um all' diese Bedingungen erfüllen zu können. Und andererseits – und das ist entscheidend – mache ich einen perfekten Tag auf diese Weise von unendlich vielen Bedingungen abhängig. Denn in Gedanken füge ich noch einmal so viele Kriterien hinzu, was an einem perfekten Tag alles nicht passieren darf.

 

Das erinnert mich ein wenig an das Kinderbuch „Am Samstag kam das Sams zurück“: Wenn das Sams in dieser Geschichte zu Herrn Taschenbier zurückkommen soll, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: „Am Sonntag Sonne, am Montag Mon, am Dienstag Dienst, am Mittwoch Mitte der Woche, am Donnerstag Donner, am Freitag frei und am Samstag Sams.“

Ich glaube, es hat eine Weile gedauert, bis das Sams zurückkam. Und viele Einladungen von Herrn Mon wird es ebenfalls gekostet haben.

Genau: die Kosten. Ein perfekter Tag kostet nichts und ist an keine Bedingungen gebunden. Er ist nicht planbar – er passiert einfach. Ein perfekter Tag ist ein Geschenk.

 

 

November 2013.

 

Der letzte Tag in der Proitzer Mühle, ein magischer Ort tief in der Einsamkeit des Wendlands, wohin ich nun schon seit Jahren zum Taiji-Lernen fahre. „Zurückkommen“ oder „nach Hause“ kommen wäre wahrscheinlich das angemessenere Wort. Jedes Jahr wieder hierher nach Hause zurückkommen.

Heute aber ist Abreisetag. Das bedeutet Abschiednehmen von diesem Ort, Abschied von liebgewonnenen Übungskolleginnen und -kollegen und damit verbunden immer auch etwas Wehmut und Traurigkeit. Gestern Abend – an unserem traditionellen Abschiedsfest – ist es spät geworden, und ich bin alles andere als wach und ausgeschlafen. Auf dem Flur herrschte schon früh am Morgen lautes Türengeklapper von denjenigen, die bereits ihre Koffer gepackt haben. Gern würde ich jetzt in der Mittagspause etwas Schlaf nachholen oder wenigstens ein bisschen liegen, denn gleich am vierten Tag des Workshops habe ich mir einen üblen Hexenschuss zugezogen, der mir noch immer Schmerzen bereitet und mich noch nicht so ganz rund laufen lässt. Die heutige Mittagspause ist aber kürzer als sonst, und so gehe ich vor dem Nachmittagsunterricht noch etwas spazieren. Die Straße hinter dem Übungsraum führt mich ein paar Schritte durch den Wald , an dem Mühlenbach vorbei und nach einer weiten Kurve eine leichte Anhöhe hinauf. Hier oben geht ein scharfer Wind, der mich davon abhält, noch sehr viel weiter zu laufen.

Also schaue ich von der Höhe auf die umliegenden Felder und den Wald in der Ferne. Jetzt im November scheint das Land schon im Winterschlaf zu liegen, und es ist still.

Unendlich still. So groß, so weit.

Ich lausche dieser Stille, friere und schaue, drehe und wende mich in alle Richtungen, um diese Weite und diese Stille noch einmal tief einzuatmen, verabschiede mich in Gedanken.

Ich will zurückgehen und höre etwas. Direkt über mir beginnen ein paar letzte Birkenblätter im Wind zu rascheln – nein, „rascheln“ ist nicht das richtige Wort dafür. Ich finde kein passendes Wort. Deshalb bleibe ich stehen, schaue den zitternden Blättern zu, lausche dem erst sachten, dann lauter werdenden Geräusch. Sehe, wie die Blätter an ihren Zweigen wieder zu tanzen beginnen, wieder ruhig werden. Lausche. Höre. Und

Tief, ganz, ganz tief in mir regt sich eine Erinnerung. So tief und so weit zurück, dass eine Jahreszahl aus meinem jetzigen Leben sie nicht verorten könnte. Und trotzdem eine so kraftvolle und gleichzeitig zarte Erinnerung, dass ich dastehe, schaue und lausche und weine ob der Schönheit dieser Klänge und Erinnerungen.

 

Viele Momente. Viele Tage.

Leichte und schwere Tage. Momente voller Glück und Traurigkeit.

Wahrscheinlich erfüllt keiner dieser Tage meine Bedingungen für einen perfekten Tag. Was aber diesen Tagen gemeinsam ist: Ich bin in diesen Momenten mit mir selbst, mit dem, was ich in diesem Leben soll, wofür ich vielleicht da bin, in Kontakt getreten. Ich bin zu so etwas wie meiner Essenz gekommen.

Und wer auch immer ich bin, was auch immer ich hier tun soll, weiß ich solchen Momenten vor allem: ICH BIN.

Bild: Wendland Proitzer Mühle Schnega